Auf dem Theater: Ermutigung in schwerer Zeit 

 

Zu Camilla Jacobs „All das Schöne – Frauenstimmen“ 

 

Am Anfang unserer Begegnung im Sommer 2022 stand für Camilla Jacob die Frage, wie sich die derzeit viel beschworene – und angesichts unserer wachsenden Weltzerstörung in jeder Hinsicht sehr notwendige – Resilienz in Rollen verkörpert auf die Bühne bringen ließe. Dazu kam die Idee, den eigenen, noch zu verfassenden szenischen Text mit Zitaten zu ergänzen. Und auf ihrem Schreibtisch lagen viele Bücher und einige Seiten mit Notizen. 

 

Innerhalb weniger Wochen entfaltete die Autorin und Schauspielerin ihr anspruchsvolles Projekt zu dem komplexen Skript eines Einpersonenstücks, in dem vier Frauen situativ umreißen, mit welchen Motivationen sie ihre unterschiedlichen Probleme angehen und wie sie sich eine bessere Welt für alle vorstellen. 

 

In einfühlsam angelegten Sprachwelten zeigt Camilla Jacob • eine Jugendliche, deren Lust zur Selbst- und Weltentdeckung den Frust über die vorverurteilenden Festlegungen überwindet, • die Liebe einer alleinerziehenden Mutter zu ihren Kindern, die sich vielen äußeren und inneren Anfechtungen widersetzt, • ein mitreißendes Engagement für die Unterstützung einzelner und für eine offene Gesellschaft • und den Appell, gemeinsam mehr Lebensqualität zu verwirklichen. 

 

In die interaktiven Monologe werden durch einmontierte Auszüge aus literarischen Werken unter anderem von Deniz Ohde, Mascha Kaléko, Natalia Ginzburg, Simone de Beauvoir, Simone Dede Ayivi und Elena Ferrante weitere Stimmen aus anderen Epochen, verschiedenen sozialen Milieus und kulturellen Herkünften eingeholt. 

 

Bei den Proben auf der kleinen Bühne des Bürgerbahnhofs in Wuppertal-Vohwinkel 

wurde der Text lebendig, die Worte gewannen durch Betonung, Mimik und Gestik an Bedeutung und eroberten den Raum mit fesselnden Wechseln von Leisem und Lauten, Starkem und Zartem, träumerischer Nachdenklichkeit und ausgelassener Entschiedenheit. 

 

In intensivem künstlerischen Dialog mit der Schauspielerin und Dozentin für Sprache Stefanie Siebers und der Theaterpädagogin und Dramaturgin Ute Kranz formte Camilla Jacob mit der Modulation ihrer Stimme und den Bewegungen ihres Gesichts und Körpers die vier Frauenporträts. Mit diesem work in progress veränderte sich die Vorlage, wurde gekürzt, spielerisch erforscht und umgeschrieben, um die Charaktere auch textlich mit Nuancen und Akzenten zu vertiefen.  

 

Zum Beispiel im seelischen Chaos der Jugendlichen, die schwankend zwischen Verletzlichkeit und Aggressivität ihre von der Gesellschaft ausgeteilten „Arschkarten“ zurückgibt und gegen das System rebelliert. Mit einem Zitat aus Sibylle Bergs dystopischem Roman „GRM. Brainfuck“, in der Teenager nur mit kriminellen Methoden gegen die kollektive Brutalität bestehen können, erweitert sich diese Perspektive. Doch Camilla Jacobs Jugendliche überwindet solche Abgründe in sich und nimmt mit ihrem Eintreten für Individualität und aufrichtige Kommunikation und mit ihrer Begeisterung für das Geschenk des Lebens die thematischen Leitfäden der Inszenierung auf. 

 

Nahezu nahtlos anschließend beginnt der zweite Teil mit der Darstellung einer Geburt in einem stream of consciousness, in dem sich die Empfindungen der Gebärenden und ihre Bewältigung des Schmerzes mit den von außen in sie dringenden Anweisungen der Hebamme verbinden, skandiert mit pustend betontem Atemrhythmus und ausholenden Armschwüngen. 

Unter der mütterlichen Beglückung steigen später angesichts der ablehnenden Umwelt Verzweiflungsgedanken auf, vor allem als die Sprecherin sich in Schicksalsgenossinnen einfühlt, die noch bedrängter und verlorener als sie in resignatives Verstummen fallen oder sogar manchmal am Rande des Selbst- und Kindsmords stehen. Letztlich überwiegt das Kämpferische der alleinerziehenden Frau, die sich in der karikierten Pose Clint Eastwoods in „Für eine Handvoll Dollar“ heldenhaft gegen Diskriminierung wehrt. 

 

Musik hat nicht nur an dieser Stelle – mit der berühmten Filmmelodie – eine wichtige Funktion im Bühnenwerk: Magdalena Wolf am Cello und Jonas Jacob an der Trompete gestalten den Auftakt und geben den aufeinander folgenden Auftritten atmosphärisch entsprechende Rahmen, die den Zuschauer*innen Gelegenheit bieten, das Gesehene und Gehörte wirken zu lassen. 

 

Die Cellistin kündigt zudem den Beginn der literarischen Zitate durch kleine Arrangements an und untermalt die Auszüge aus Gedichten mit ihren zum lyrischen Ton der Worte korrespondierenden Klängen, besonders eindringlich zu einer langen Passage aus Selma Meerbaum-Eisingers „Poem“, mit dem die dritte Protagonistin der existentiellen Gefährdung eine innige Lebensfreude entgegensetzt. 

 

Magdalena Wolf und Jonas Jacob übernehmen auch Rollen im Stück, dessen fiktiver Schauplatz eine Bahnhofshalle ist, ein auch metaphorischer Übergangsort zwischen Ankunft und Weiterreise. In den Durchlaufproben und den Aufführungen am 16. Oktober und 13. November 2022 war die Halle in Vohwinkel auch die reale Spielstätte, die nicht nur Kulisse und Komparserie zur Verfügung stellte, sondern auch eine zusätzliche Durchdringung von Theater und größerer öffentlicher Wirklichkeit ermöglichte. Das Konzept erwies sich als erfolgreich: Immer wieder blieben Passant*innen stehen, schauten und lauschten, fragten nach. 

 

In der letzten Sequenz, in der eine aktive Politikerin den Musiker*innen applaudiert, sich auf einen freien Stuhl im Publikum setzt und die Anwesenden ansatzweise ins Gespräch zieht, gelingt es Camilla Jacob, ihre Intentionen zu persönlichen Anliegen der Anwesenden werden zu lassen: Es ist das Schicksal vieler, das hier nicht nur zur Sprache, sondern auch zur Handlung gebracht wird. Der gemeinsame Austausch von Reaktionen, zu dem alle bei Tee und Gebäck eingeladen sind, setzt das Stück über sein Ende hinaus fort mit der Aufforderung,  die vielfältige Schönheit des Lebens zu erkennen und sich dafür einzusetzen, dass sie erhalten bleibt. 

Seit dem ersten Gespräch mit Camilla war ich von ihrem Vorhaben fasziniert, wenn auch zunächst skeptisch, ob es ihr in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit gelingen würde, für die Veranschaulichung verschiedener Quellen resilienten Verhaltens Figuren zu erfinden, zu schreiben, zu spielen und in Zusammenarbeit mit einem Team anderer Künstler zu inszenieren. 

Aber schon bald schickte sie Texte, deren Protagonistinnen mich vor allem mit dem Wechsel von Schwächen und Stärken überzeugten, mit denen sie ihre Hilflosigkeit und ihre Widerständigkeit vertreten. In den Gesprächen mit allen an der Inszenierung Beteiligten klärten sich die Profile der vier Dargestellten, konzentrierten sich auf Wesentliches. 

Besonders beeindruckend waren für mich die Proben, in denen der mir inzwischen gut bekannte Text gespielt neue Facetten und Dimensionen entfaltete. 

Obwohl eine Schalterhalle eine Verwirklichung der Fiktion ermöglicht, stelle ich mir die Eindringlichkeit des Stücks auf anderen Bühnen mindestens ebenso inspirierend vor. Und wünsche allen, die es noch nicht gesehen haben, viele davon! 

 

©2022 Dr. Jutta Höfel

Jutta Höfel studierte Romanistik, Germanistik und Philosophie an der Universität
Wuppertal und promovierte 1993 über den belgischen Lyriker Emile Verhaeren (Frankfurt
1994). Seitdem ist sie als freie Moderatorin, Dozentin und Publizistin für Literatur und
Kunst in Bildungseinrichtungen, Galerien und Verbänden tätig. 1996 – 2006 leitete sie den
Fachbereich Literatur der GEDOK Wuppertal, seit 1997 ist sie Vorstandsmitglied der
Bergischen Kunstgenossenschaft e.V. 2006 erhielt sie den Förderpreis der Enno-und-
Christa-Springmann Stiftung, Wuppertal.